Babyn Yar – ein Requiem
Babyn Yar, eine Schlucht in Kiew, ist der Ort, an dem die Nazis, die deutsche Wehrmacht, die SS und diverse Polizeibataillone, in Sonderheit das Bataillon 303 aus Bremen, in weniger als zwei Tagen, am 29. und 30. September 1941 insgesamt 33.771 Juden, vornehmlich Frauen, Kinder und alte Leute ermordeten. Die Deutschen hatten die Sowjetunion überfallen und, im Sinne eines “Betriebsausfluge”, ihre Morde verrichtet. Babyn Yar steht für die Schoah der osteuropäischen Juden. Noch vor Auschwitz. In Babyn Yar nahmen die Mörder den Ermordeten nicht nur ihr Leben. Sie stahlen ihnen jede Erinnerung, die Trauer und die Trauernden. Sie mordeten die Vor- und die Nachfahren. Babyn Yar steht für das Auslöschen allen Lebens, jeder Würde.
Zwei starke Frauen, Marina Schubarth, Leiterin und Regisseurin des dokumentartheater berlin, Trägerin der Carl v. Ossietzky Medaille und Vlada Belosorenko, Regisseurin des Körpersprechtheaters Studio 11 in Kiew wagten als erste, länderübergreifend, Babyn Yar auf die Bühne zu bringen. Nicht als schlichtes Theaterstück. Solch Grauen lässt sich in der Weise nicht abbilden. Die Überlegungen beider Regisseurinnen mündeten in ein künstlerisches Requiem.
Babyn Yar – ein Requiem ist den Ermordeten, den Opfern dieses Massakers gewidmet.
Nadeschda heißt Hoffnung
Nadeschda Slessarewa wird am 23. September 1930 in Dnjepropetrowsk / Ukraine geboren. Sie wird Zeugin von Stalins Holodomor, Stalins Erschießungen, des Nazi-Terrors im Zweiten Weltkrieg mit der Verschleppung zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Sie wird im Winter 1943 / 1944 von den Nazis 700 Kilometer zu Fuß Richtung Deutschland getrieben, durchlebt u.a. das Konzentrationslager Stutthof und wird als junges Mädchen für medizinische Experimente missbraucht. Sie hat überlebt, und sie ist eine der letzten ZeitzeugInnen – die besten Geschichtsbücher, die man sich vorstellen kann. Als sie nach dem Krieg durch das zerbombte Kiew geht, steht für sie fest: “Ich werde diese Stadt wieder mit aufbauen!“
Sie wird Ingenieurin und leitet als eine der ersten Frauen u.a. große Bauvorhaben in der Kiewer Metro. Ihr Leben widmet sie später unermüdlich der Arbeit gegen das Vergessen in Form ungezählter Bücher, die sie schrieb, Begegnungsprojekten mit Jugendlichen und Theaterarbeit. Sie ist Chronistin dieses Jahrhunderts und Weltbürgerin, eine Frau, vor der sich das Ensemble zutiefst verneigt. Im August letzten Jahres hat sie das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen.
Das Stück unter der Leitung von Marina Schubarth ist eine Collage aus Theater, Musik und Lesung.
Szene “Kück”bei der Premiere in der Alten Pumpe
AKTE NSU
Ein Stück Geschichte der Gegenwart. Das Paradestück des Theaters. Seit acht Jahren. Ständig an die aktuelle Entwicklung angepasst. Nichts an Aktualität verloren
Das Stück zeigt das jahrelange, von den Diensten entweder nicht entdeckte oder nicht entdecken wollende Ereignisse, marodierende Vorgehen des Nationalsozialistischen Untergrundes der Gruppe um Beate Zschäpe mit der Folge von zehn Morden. Es beleuchtet die Komplexität dieses bis heute undurchsichtigen Teils rechtsextremer Kriminalgeschichte, sowie dessen Täter und Opfer auf besonders eindringliche Weise. Es fokussiert sich nicht auf die Täter, vielmehr auf die Opfer.
Nachdem die Premiere am 5. Mai 2013, einen Tag vor Beginn des sogenannten Zschäpe-Prozesses vor dem OLG München stattfand, wurde das Stück laufend an die aktuelle Entwicklung des Prozesses angepasst. Es ist mehrfach gefördert und ausgezeichnet worden. Zuletzt am 1. April 2019 durch den ersten Preis vom Bündnis für Demokratie und Toleranz, verliehen vom Regierenden Bürgermeister von Berlin im Roten Rathaus. Im April 2019 gewann es beim IV. Internationalen Theaterfestival von Krakau in Konkurrenz zu siebzehn Theatern den GRAND PRIX.
Trailer zu AKTE / NSU
v.l.n.r.: Paul, Maria, Maren, Hendrik
UND DER NAME DES STERNS HEISST TSCHERNOBYL
Es ist die Geschichte einer Liebe. Es ist die Geschichte vom Kampf ums Überleben. „Und es ist die Geschichte einer Katastrophe, deren verheerende Folgen für die gesamte Menschheit wir noch immer nicht ermessen können und die heute vor dem Hintergrund der Katastrophe von Fukushima bittere Aktualität besitzt.“
Die Aufführung benutzt mit Genehmigung der Autorin, Swetlana Aleksijewitsch, Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels des Jahres 2013, Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2015, Auszüge aus ihrem Buch Chronik einer Zukunft.
Chellyn und Anju
HOLODOMOR
Im Dezember 1927 hatte der XV. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (damals als Kommunistische Allunions-Partei (Bolschewiki) bezeichnet) Maßnahmen zur beschleunigten Industrialisierung der Sowjetunion beschlossen, die im ersten Fünfjahresplan für die Periode 1928 bis 1932 niedergelegt wurden. Im Hinblick auf die traditionell in der Dorfgemeinschaft verwurzelte Landwirtschaft ging man von den bisherigen Experimenten einer freiwilligen Kollektivierung zur Zwangskollektivierung über. Ein Ziel war die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion, um mit Exportüberschüssen aus diesem Sektor die Einfuhr für die Industrialisierung benötigter Wirtschaftsgüter wie Ausrüstungen für Industriebetriebe finanzieren zu können. Diese Steigerungen hoffte man durch die Zusammenlegung landwirtschaftlicher Flächen, die Einführung neuer Anbaumethoden und durch die Mechanisierung zu erreichen. Ferner sollte die in der Periode der Neuen Ökonomischen Politik noch mögliche private Lagerhaltung verboten werden.
Der Holodomor begann mit einer schweren Dürre im Frühjahr 1932. Trotz des Hungers der Landbevölkerung erhöhten die Parteikader die Abgabenquote der Bauern auf 44 Prozent. Während im Jahr 1931 noch 7,2 Millionen Tonnen Getreide in der Ukraine requiriert wurden, sank dieser Wert trotzdem auf 4,3 Millionen Tonnen im Jahr 1932. Das Getreide wurde größtenteils zur Devisenbeschaffung auf dem Weltmarkt verkauft. Die Einnahmen wurden zur Industrialisierung der sowjetischen Wirtschaft und zu Rüstungszwecken genutzt.
Nach Anne Applebaum entschied Stalin im Herbst 1932, die Hungerkrise gezielt gegen die Ukraine zu nutzen. Die Grenzen wurden geschlossen, so dass Hungerflüchtlinge nicht ausreisen konnten. Im Jahr 1932 erhielt Stanislaw Redens (Leiter der ukrainischen GPU und Schwager von Stalins Ehefrau Nadeschda Allilujewa) zusammen mit dem Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU), Stanislaw Kossior, die Aufgabe, als Bestandteil der Kollektivierung einen Plan zu entwickeln, um die „Kulaken und die petljurschen Konterrevolutionäre“ zu liquidieren. Zweitausend Kolchosvorsitzende wurden daraufhin verhaftet. Als im Januar 1933 das Getreidesoll nicht erreicht war, löste man Redens in der Ukraine ab.
Am 28. November 1932 beschloss das Politbüro der Ukraine unter Wjatscheslaw Molotow, dem späteren sowjetischen Außenminister, als Bevollmächtigtem von Generalsekretär Stalin, die Verhängung von „Naturalienstrafen“ und die Einführung von „Schwarzen Listen“ gegen opponierende Bauern. In der Folge wurden die Lebensmittelforderungen an die Bauern drastisch forciert. In den Dörfern wurden darüber hinaus Haushaltsgegenstände wie Seife oder Petroleum konfisziert. Bolschewistische Brigaden suchten nach versteckten Lebensmitteln. Dörfer wurden systematisch ausgeplündert. In der Folge von Strafabgaben verloren viele Bauernfamilien ihren gesamten Besitz und endeten, um Essen bettelnd, in den Städten. In der Bevölkerung kam es zu Kannibalismus.
Die sowjetische Regierung versuchte aktiv, das Geschehen vor der Weltgemeinschaft zu verbergen.
Jedes Jahr am 4. Samstag des November gedenkt man in der Ukraine diesem furchtbarem Ereignis. An diesem Tag werden Kerzen angezündet und in die Fenster gestellt, in Erinnerung an die Abermillionen Toten des von Stalin initiierten Genozids. In Russland noch immer verleumdet, in Europa nicht wirklich bekannt. Im Stück Holodomor werden Texte von Zeitzeugen der Hungersnot 1932-33 dokumentarisch auf die Bühne gebracht.
Jan Uplegger
OST-ARBEITER
Aus 2,5 Millionen Zwangsarbeitern wurden für dieses Stück zwei Schicksale ausgewählt. Der damals 14jährige Leonid Sitko, der seiner Mutter entrissen wurde, um in Deutschland zu arbeiten, wurde nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion als Kollaborateur zu 25 Jahren Gulag verurteilt. Nicht viel besser erging es der Ukrainerin Soja Kriwitsch. Das Theater gibt damit Menschen eine Stimme, die sich vergessen fühlen. Bei regelmäßigen Gastspielen in der Ukraine und in Russland kommt es zu erschütternden Begegnungen mit den Betroffenen, werden Kontakte geknüpft und Versöhnung gelebt.
TÄNZERIN HINTER STACHELDRAHT
Es ist die wahre Geschichte der Tänzerin Alla Rakitjanskaja. Schon als Kind ist es ihr größter Wunsch zu tanzen – eine Ballerina zu sein. Doch der Zweite Weltkrieg stellt die Weichen für Allas Leben anders. Sie wird zur Zwangsarbeit nach Berlin-Weißensee deportiert, dort als Tänzerin für Propagandazwecke der Nationalsozialisten missbraucht.
Dafür wird Alla später in ihrer Heimat Russland wegen Vaterlandsverrats, Spionage und unerlaubtem Kontakt zu Ausländern zu 25 Jahren GULAG (Strafarbeitslager in Sibirien) verurteilt. Alla wird zu einer Tänzerin hinter Stacheldraht, friert sich bei minus 25° C die Fersen ab und tanzt im GULAG ihren letzten Tanz.
Ihr Publikum dort sind Intellektuelle, Schriftsteller und gewöhnliche Verbrecher – alle unter Stalins Regime zur unmenschlichen Zwangsarbeit verdammt. Doch genau in diesem Arbeitslager geschieht das, was kein Stacheldraht, kein Regime dieser Welt zu verhindern weiß: die Liebe! Als Alla, gemeinsam mit ihren Mithäftlingen, in den Wald zum Bäume fällen abgeordert wird, entdeckt sie eine kleine Blume, eine Margerite. Sie pflückt sie heimlich und steckt sie sich ins Haar. Ein anderer Häftling, ein Dichter, beobachtet sie dabei und verliebt sich in die Ballerina. Heimlich beginnt er, an Alla Gedichte zu schreiben. Und selbst unter der strengen Aufsicht der Kommandeure gelingt es ihm, ihr diese Gedichte als kleine Liebesbotschaften zuzuspielen.
Doch die beiden können nicht zueinander finden, sie wird diesen Menschen niemals wieder sehen. Bis heute weiß Alla nicht, was mit ihm geschehen ist. Was übrig geblieben ist, sind diese wenigen Zeilen, die er ihr geschrieben hat. Tänzerin hinter Stacheldraht“ ist eine Liebesgeschichte. Und es ist ein Stück über zwei Diktaturen, die, wenn Willkür es zulässt keinen Menschen verschonen. Es ist aber auch ein Stück über Diktatur und Kunst, vielmehr über Diktatur als Nährboden für den Missbrauch von Kunst, für die Vernichtung des Individuums und der Kunst. Allas Schicksal zeigt, dass unter grauenhaftesten Bedingungen der Mensch Mensch bleiben kann, lieben und künstlerisch wirken kann. Alla lebt heute über 80-jährig in Dnepropetrowsk in der Ukraine.
Seit der Premiere im Jahr 2003 wurde das Stück weltweit auf Festivals in der Ukraine, Lettland, Armenien, Katalonien und Kanada mehrfach ausgezeichnet. Bei dem 16thMondial du Theatré in Monaco im August 2009 erhielt das Stück den 1. Preis. In Berlin ging es als Sieger aus dem denkMal! – Wettbewerb im Berliner Abgeordnetenhaus unter der Schirmherrschaft von Walter Momper hervor. das dokumentartheater berlin, Regisseurin und Carl-von-Ossietzky-Medaillen-Trägerin Marina Schubarth schafft seit seiner Gründung vor sieben Jahren diese einmalige Kombination aus dokumentarischer Theater-, humanitärer Begegnungs- und politischer Bildungsarbeit und wurde in seiner außergewöhnlichen Arbeit u.a. durch die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, den Fonds Darstellende Künste, den Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung sowie den Fonds Soziokultur gefördert.
VERGESSENE BIOGRAFIEN
Versprich mir, dass Du am Leben bleibst.
Dieser Wunsch eines Industriellen, geäussert gegenüber Isaak Behar, ist die Leitlinie dieses Stücks. Isaak Behar hielt Wort und blieb am leben, entging der Mordmaschinerie der Nazis. Der Wunsch wurde zum Buchtitel. der damals junge Behar wurde vor seinen Nazi-Häschern gerettet. Er verstarb im Alter von 87 Jahren in Berlin am 22. April 2011.
Über drei Jahre engagierten sich Jugendliche des „Jugendcafé Nightflight“ der Ev. Kirchengemeinde Charlottenburg in Zusammenarbeit mit das dokumentartheater berlin gegen das Vergessen: In dem dokumentarischen Theaterstück „Vergessene Biografien“ und einer mittlerweile über 40 Tafeln umfassenden Ausstellung, erzählen sie die selbst recherchierten Geschichten von MigrantInnen und Schwarzen Deutschen im Nationalsozialismus.
In Theatern, Schulen und Jugendclubs stellten sie die Lebensgeschichte eines türkischen Juden im Untergrund und eines afro-deutschen Mädchens bei der Zwangsarbeit dar, sie zitierten aus den Gerichtsakten eines Schwarzen Deutschen im Widerstand und schildern Augenzeugenberichte einer Schwarzen Frau im KZ.
In Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteuren der Jugend- und Kulturarbeit und dank der finanziellen Unterstützung durch zwei Fonds, sind seitdem eine Ausstellung und ein spannendes Theaterstück aus wahren Geschichten der Menschen entstanden, deren Schicksale fast vergessen wurden. Wie lebten sie? Woran glaubten sie? Was geschah mit ihnen als Hitler an die Macht gewählt wurde? Wurden sie verfolgt? Wer half ihnen? Wer denunzierte sie? Haben sie überlebt?